Metamorphosen einer Publikationsidee auf dem Weg zum Leser
Der Weg von der Idee bis zur fertigen Publikation ist oft lang. Das gilt besonders bei Verlagsprodukten. Im Rahmen meiner Autorentätigkeit habe ich irgendwann festgestellt, dass dabei alle Beteiligten ihre ganz eigene Sicht auf das Projekt entwickeln … und es ständig in neue Richtungen lenken.
Ein kleines Beispiel aus meiner Erfahrung als Autor bei der Zusammenarbeit mit etablierten Verlagen zeigt, wie sich ein Buch auf dem Weg zum Leser verändert:
- Am Anfang steht das Buch, das ich ursprünglich schreiben wollte. Okay, da war ich noch voller Elan und hatte mir über die limitierenden Faktoren noch keine Gedanken gemacht.
- Daraus wird das Buch, auf das ich mich mit dem Verlag einige, um einen Vertrag zu bekommen. Klar, das Buch muss ich das Verlagsprogramm passen, Umfang und Ausstattung sind weitgehend vorgegeben und schließlich wird der Verlag auch besser über die Zielgruppe bescheid wissen als ich, oder?
- Schließlich manifestiert sich das Buch (oder genauer: Manuskript), das ich dann tatsächlich geschrieben habe. Sachzwänge, insbesondere die drängende Deadline und der begrenzte Umfang, sorgen irgendwann dafür, dass der ursprüngliche Elan einem gesunden Realismus weicht. Manches funktioniert auch nicht wie geplant: Co-Autoren und Interviewpartner springen kurzfristig ab und eingedampft auf zwei Seiten ist die tolle Fallstudie gar nicht mehr so toll, Aber zum Glück weiß der Leser ja nicht, was ich alles weggelassen habe!
- Daraus wird (weitgehend außer meiner Kontrolle) das Buch, das mein Verlag/Lektor/Ghostwriter/… aus diesem Manuskript machen. Irgendwann kommt die erste Fahne, dann die zweite, schließlich die Belegexemplare. Meist war ich positiv überrascht, wie professionell mein profanes Manuskript professionell lektoriert und gesetzt zwischen zwei Buchdeckeln wirkt. Aber manchmal muss man auch die Protektoren auspacken, um dafür zu sorgen, dass die eigenen Ideen überhaupt noch erkennbar bleiben. Beispielsweise, wenn unmotiviert ganze Passagen gestrichen werden oder Grafiken so klein gesetzt werden, dass sie gar nicht mehr entzifferbar sind. Freud und Leid liegen hier manchmal eng nebeneinander, wobei immer mehr Verlage die Aufwendungen für Lektorat, Korrektorat und Satz zusammenstreichen.
- Parallel gibt es da noch das Buch, das der Verlag dem Buchhandel gegenüber vermarktet. Manchmal ist es gut, als Autor davon nicht allzu viel mitzubekommen. Da reduzieren sich die ganzen schönen Alleinstellungsmerkmale plötzlich auf 10 Zeilen im Verlagsprospekt.
- Schließlich kommt das Buch, das tatsächlich im Buchhandel steht oder von Amazon ausgeliefert wird, scheint der „real deal“ zu sein. Wenn die Druckerei nicht geschlampt hat und die Vorgaben sinnvoll gewählt waren (wie Papierdicke, Format und Einband) gibt es jetzt ein schönes Produkt. Aber freuen Sie sich nicht zu früh. Interessenten und Käufergreifen nicht zum realen Objekt, sondern. …
- … zu dem Buch, das der Buchkäufer beim Kauf zwischen den Buchdeckeln erwartet. Und das kann ganz etwas anderes sein! Als Autor kann ich es mir nicht aussuchen, wer wirklich zu meinem Buch greift. Ob ich die intendierte Zielgruppe erreiche, ist von unendlich vielen Faktoren abhängig. Nur wenn ich selbst mein Buch aktiv vermarkte, kann ich die Erwartungshaltung der Käufer ein wenig steuern. Mir wurde aber auch schon gesagt, man habe mein Buch „nur wegen dem schönen Cover“ gekauft. Oder weil es das einzige war, das zu dem Thema gerade in der Buchhandlung lag. Oder weil es dünner und billiger war als die anderen. Andere suchen sich das dickste Buch aus, das Neueste, das mit den besten Rezensionen bei Amazon … you name it. Übrigens hat mir nie jemand gesagt: Weil es bei einem renommierten Verlag erschienen ist – die meisten Buchkäufer interessiert der Verlag nicht.
- Letztlich aber kommt es auf das Buch an, über das der Leser sagt, er habe es gelesen. Zwischen der Erwartungshaltung des Buchkäufers und der Wahrnehmung des Lesers können Welten klaffen. Und es gibt viele Käufer, die ein Buch nie komplett lesen, sich aber trotzdem eine Meinung bilden und diese (gegebenenfalls lautstark) vertreten. Manchmal haben mich Leserkommentare ratlos zurückgelassen – bis ich verstand, dass sie mehr über die Diskrepanz zur Käufererwartung als über den Buchinhalt aussagen. Das Erschreckende ist, dass es mindestens so viele Lesermeinungen gibt wie Leute, die das Buch zumindest irgendwie anlesen. Leser-Rezensionen bei Amazon und Co. zeigen immer nur ein verzerrtes Meinungsbild, da sich die meisten Leser nicht die Mühe machen (oder ihre persönliche Meinung als nicht relevant ansehen) um eine Bewertung abzugeben. Und häufig ist das Leservotum von ganz wenigen Kriterien abhängig: Manchmal kann ein einziger hilfreicher Tipp, eine nützliche Aufstellung oder eine praktische Checkliste eine positive Beurteilung bewirken, manchmal allein die Schriftart, der Schreibstil oder das Layout eine negative.
Als Autor und Berater ist mein Ziel, dass Buchkäufer (zumindest ein relevanter Teil) auf meine weiteren Angebote aufmerksam werden und diese in Anspruch nehmen. Dazu ist es notwendig, dass der Trade-off zwischen meiner ursprünglichen Idee und der Wahrnehmung der Publikation durch die Zielgruppe möglichst gering ist. Nur so gelingt es, eine Leserbindung aufzubauen.
In der Praxis folgt daraus: Strategisches Publizieren setzt bereits bei der Erwartungshaltung der Zielgruppe an. Manuskripterstellung und alle folgenden Prozesse sind so zu gestalten, dass immer auf die optimale Erfüllung dieser Erwartungshaltung hingearbeitet wird. Bei vielen Verlagsprojekten ist aber leider die finale Wahrnehmung durch den Leser eher dem Zufall unterworfen.